Lassen Sie mich zunôchst ein paar Vorbemerkungen machen. Zum Ersten: Wôhrend der Arbeit an diesem Vortrag habe ich beschlossen, den Titel zu verôndern. Er heisst nun: "Abschied von der Politik!". Mit dieser etwas provokatorisch anmutenden Formulierung ist allerdings keine Aufforderung zum R¹ckzug ins Private beabsichtigt. Auch wenn dies angesichts der wenig erfreulichen bis unappetitlichen Vorgônge in der sogenannten "grossen" Politik - beileibe nicht nur in ãsterreich - momentan naheliegen k¡nnte. Ich meine vielmehr, dass es notwendig ist, sich endlich vom herk¡mmlichen Politikbegriff und den damit verbundenen Praktiken zu verabschieden. Daraus resultiert dann auch das Plôdoyer f¹r das, was ich "radikalen Reformismus" nenne.
Zum Zweiten kann man heute schlecht ¹ber Politik sprechen, ohne auf die Ursachen und Konsequenzen der aktuellen Regierungsbildung hier in ãsterreich einzugehen. Ich denke, dass f¹r den bemerkenswertenAufstieg der, wie man so sagt, rechtspopulistischen FPã zunôchst einmal Gr¹nde massgebend sind, die in einigen Besonderheiten der ¡sterreichischen Geschichte und des ¡sterreichischen Parteiensystems wurzeln, z.B. in der fast zur Permanenz gewordenen grossen Koalition. Um darauf einzugehen, fehlen mir allerdings die detaillierten Kenntnisse. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung in ãsterreich in gewisser Hinsicht nur der zugespitze Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zur Verônderung von Staat, Parteiensystem und Politik. Mehr oder weniger perfekte Haiders gibt es ¹berall, wenn auch nicht ¹berall bereits die Bedingungen f¹r eine offene Regierungs¹bernahme vorhanden sind. Oder weil sie in gewissen Sinne schon stattgefunden hat. Immerhin hat z.B. der amtierende Ministerprôsident Hessens seinen Wahlerfolg vor einem Jahr mit einer gekonnt inszenierten auslônderfeindlichen Kampagne erzielt. -brigens finanziert mit Schwarzgeld aus einem mafi¡sen System von Geldwaschanlagen. Die Sache selbst hat sehr viel mit der wohlfahrtschauvinistischen Transformation der Demokratie in den kapitalistischen Metropolen zu tun, mit ihrer Verwalndlung in eine Art sozialer Apartheidsregime. Dies die ein besonderes Kennzeichen der aktuellen Entwicklung. Die Ausbreitung rechtspopolitischer Legitimations- und Diskursstrategien ist nicht zuletzt eine Folge der Verônderungen von Gesellschaft, Staat und Politik, die im Zuge der neoliberalen Globalisierungsoffensive durchgesetzt worden sind. Damit vor allem m¡chte ich mich hier beschôftigen.
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Im herk¡mmlichen Verstôndnis hatte Politik etwas mit der Gestaltung sozialer Verhôltnisse zu tun, mit Kômpfen um Interessen, gesellschaftliche Ziele und Ordnungsvorstellungen. Als demokratisch galt sie, wenn die Betroffenen in gewisser Weise daran mitwirken konnten. Davon konnte unter b¹rgerlich-kapitalistischen Verhôltnissen allerdings immer nur recht eingeschrônkt die Rede sein.
Heute wird indessen beides fragw¹rdig, sowohl die Gestaltungsfôhigkeit als auch der demokratische Charakter von Politik selbst im b¹rgerlich-liberalen Sinne. Was gegenwôrtig Politik heisst, reduziert sich immer deutlicher auf die mehr oder weniger effiziente Verwaltung des Bestehenden, auf Anpassung an scheinbar unbeeinflussbare Sachzwônge - seien es die einer entfesselten Technologie oder eines unkontrollierbaren Weltmarkts. In der politischen Debatte geht es kaum mehr um alternative gesellschaftliche Ziele, nicht einmal eigentlich mehr um Interessenkonflikte. Es geht sondern um das schlichte Management des Status Quo.
Allerdings f¹hrt dies auch dazu, dass sich immer weniger Menschen etwas vom politischen Geschôft erwarten, dass die politische B¹hne als eine eher mô-ig unterhaltsame Sparte des medialen Showbusiness wahrgenommen wird, dass die Neigung zunimmt, das politische Personal eher nach Outfit, Symphatiewerten oder schauspielerischer "Glaubw¹rdigkeit" denn nach den Ergebnissen seines Handelns zu beurteilen.
Nun liegt das nicht allein am schlechten Personal. Dass Politik sozusagen zu einer Art Standortverwaltung verk¹mmert ist, hat vielmehr einiges mit den gesellschaftlichen Verônderungen zu tun, die seit den siebziger Jahren im Gefolge der Krise des fordistischen Nachkriegskapitalismus zu verzeichnen sind: die als "Globalisierung" bezeichnete neoliberale Restrukturierung des Kapitalismus auf der einen, dem Untergang des "realen Sozialismus" mit dem damit besiegelten Ende der Systemkonfrontation auf der anderen Seite.
Wenn damit, wie in diesem Zusammenhang formuliert wurde, tatsôchlich das "Ende der Geschichte" (Fukujama) erreicht wôre, dann w¹rde dies in der Tat zugleich auch das Ende der Politik in einem emphatischeren Sinne bedeuten. Wenn es keine historischen Alternativen mehr gibt, gibt es auch nichts mehr zu gestalten. Dann reicht es, die Permanenz des Bestehenden zu garantieren und den laufenden Betrieb gegen allfôllige St¡rungen abzusichern. Dass eben dieser Betrieb auf lôngere Sicht immer katastrophalere soziale Folgen zeitigt, gilt als ebenso bedauerlich wie unvermeidlich. So bleibt nur die Hoffnung, dass der - politisch soziale, ¡konomische oder ¡kologische - Ernstfall noch etwas auf sich warten lôsst.
Solche Wahrnehmungen haben nat¹rlich einen realen Erfahrungshintergrund. Dazu geh¡rt das endg¹ltig besiegelte Scheitern der grossen gesellschaftsverôndernden Projekte des 20. Jahrhunderts, d.h. des sozialdemokratisch-reformistischen wie des autoritôr-staatssozialistischen Versuchs, die Gesellschaft mit Hilfe des Staates umzugestalten. Und es besteht ein scheinbares Paradox: Im Zuge der Durchsetzung des fordistischen Kapitalismus der Nachkriegszeit hatten sich Staaten mit einer relativ entwickelten Fôhigkeit zur interventionistischen Regulierung keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Typs herausgebildet. Damit war der ¡konomisch und sozial integrative "Nationalstaat" materiell gewisserma-en zu sich selbst gekommen. Eben dieser Nationalstaat schrônkt nun im Zuge der neoliberalen "Globalisierung" seine Fôhigkeit zur gesellschaftlichen Regulierung selbst wieder systematisch ein.
Dieser "R¹ckzug" der Staaten im Sinne eines "lean management" der Gesellschaft war eine entscheidende Voraussetzung f¹r die Reorganisation der Verwertungsbedingungen und Klassenkrôfteverhôltnisse nach der Krise der siebziger Jahre und damit f¹r wieder steigende Kapitalprofite. Gleichzeitig wurden aber zugleich die M¡glichkeiten, mittels staatlicher Politik die Gesellschaften zusammenzuhalten und zu gestalten, erheblich verringert.
Bestandteil dieses Transformationsprozess ist eine Internationalisierung des Staates, die sich in der zunehmenden Verlagerung relevanter politischer Entscheidungen in ein komplexes System internationaler politischer Organisationen und Institutionen und in einer direkten Anbindung relevanter Teile der Staatsapparate an die Interessen internationaler Kapital- und Finanzmôrkte und deren Institutionalisierungsformen (WTO, IWF, Weltbank, G7 usw.) ôu-ert. Politik wird bekanntlich heute im wesentlichen von den Finanzministerien und Zentralbanken gemacht, wôhrend Parteien, Parlamente und Sozialstaatsb¹rokratien eine eher untergeordnete Rolle spielen. Auch dies ist ein Grund daf¹r, dass entscheidende Politikfelder in den ¹blichen Wegen und Verfahren, also mittels demokratischer Wahlen und parlamentarischer Gesetzgebung, praktisch kaum mehr beeinflusst werden k¡nnen. Als Folge umfassender Privatisierungsprozesse und der wachsenden Macht des multinationalen Kapitals verlagern sich gleichzeitig politische Entscheidungen immer stôrker in undurchsichtige staatlich-private Verhandlungssysteme, die von den formalisierten demokratischen Prozessen weitgehend abgekoppelt sind.
Dies verbindet sich schlie-lich mit der Entstehung eines unipolaren Weltsystems, das von der Vorherrschaft einer kleinen Gruppe von Metropolen unter der F¹hrung der USA ¹ber die "schwachen" Staaten der Peripherie gekennzeichnet ist. Damit werden die politischen Bewegungsspielrôume auf einzelstaatlicher Ebene insgesamt noch weiter eingeschrônkt. Es entstehen neue Formen von Konflikten: B¹rgerkriege, "ethnische" Gemetzel, "humanitôre" Militôrinterventionen zur Sicherung der Interessen der starken gegen die schwachen Staaten auf der einen, "Fundamentalismus" und "Terrorismus" auf der anderen Seite. Der traditionelle Politikbegriff war wesentlich auf den modernen, im Prinzip als souverôn gedachten Nationalstaat bezogen. Mit dessen Transformation verliert er daher wesentliche materielle und institutionelle Grundlagen. War bislang die Anarchie der Staatenwelt das bestimmende politische Organisationsprinzip des globalen Kapitalismus, so tritt an deren Stelle jetzt die Anarchie eines von komplizierten Konflikten und Gegensôtzen durchzogenen, quasi weltumspannenden Imperiums, das von einem hierarchisch strukturierten Geflecht von Staaten, internationalen Organisationen, multinationalen Konzernen und nicht zuletzt auch kriminellen Organisationen mafi¡sen Typs kontrolliert wird.
Aush¡hlung der liberaldemokratischen Institutionen. Diese bleiben zwar formell intakt, laufen aber angesichts schwindender politischer Spielrôume und einer scheinbaren Alternativlosigkeit der Politik inhaltlich immer stôrker leer. Es scheint in der Nimmt man all dies zusammen, so resultiert daraus eine bemerkenswerte materielle Tat so, als gehe mit dem 20.Jahrhundert auch die -ra der b¹rgerlich-liberalen Demokratie zu Ende.
Ich will hier vor allem auf zwei Folgen dieser Entwicklungen eingehen: Die Krise der Reprôsentation und eine Tendenz, die man als Medialisierung von Politik bezeichnen k¡nnte.
Wôhrend die Gestaltungsfôhigkeit staatlicher Politik systematisch eingeschrônkt wird, vergr¡-ern sich zugleich die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Fragmentierungen. Dies m¹ndet in einen Zustand, den man als eine tiefgreifende Krise der Reprôsentation bezeichnen kann. Johannes Agnoli hatte schon Ende der sechziger Jahre in bezug auf die fordistischen "Volksparteien" von der Entstehung einer "virtuellen Einheitspartei" gesprochen. Diese sei dadurch charakterisiert, dass Auseinandersetzungen ¹ber die Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft zugunsten eines blo-en Herrschaftskonflikts konkurrierender politischer Funktionôrskader zur¹ckgedrôngt werden.
Inzwischen hat diese virtuelle Einheitspartei eine recht reale Gestalt angenommen. Sie prôsentiert sich als eine sich selbst so bezeichnende "politische Klasse" staatstragender Krôfte. Diese erscheint in Habitus und Bewu-tsein weitgehend uniform, vorrangig an materiellen Pfr¹nden und Karrieren orientiert, verfolgt partei¹bergreifend vornehmlich ihre privaten Interessen und hat insoweit in der Tat einen sozusagen ideologiefreien Charakter. F¹r sie ist Politik nicht mehr ein "Beruf" im Sinne Max Webers, sondern Job, Karrierevehikel und im schlechteren Fall pure private Bereicherungsm¡glichkeit. Hatte Joseph Schumpeter die liberale Demokratie - ihren Gehalt hellsichtig auf den Begriff bringend - noch als Kampf konkurrierender Eliten um plebiszitôre Zustimmung definiert, so scheint diese Elitenkonkurrenz nun in einem faktischen Monopol aufgegangen zu sein.
Damit ist ein System struktureller Korruption entstanden, in dem die Begriffe "links" und "rechts" tatsôchlich kaum mehr Sinn machen. Die politischen Orientierungspunkte der regierenden Klasse sind nicht so sehr gesellschaftspolitische Ziele, nicht einmal mehr die Interessen spezifischer WôhlerInnengruppen, sondern die pure Sicherung der eigenen Position und des eigenen Fortkommens. Wahlen und WôhlerInneninteressen werden dabei tendenziell zu St¡rfaktoren des politischen Normalbetriebs, die es taktisch zu manipulieren, auszusitzen oder im Rahmen diskursiver Man¡ver nach M¡glichkeit zu neutralisieren gilt. Wachsende gesellschaftliche Notlagen, Diskriminierungen und Fragmentierungen gilt es weniger auszugleichen als den Betroffenen gegen¹ber als unvermeidlich, eben als "Sachzwang" zu vermitteln. Noch vor recht kurzer Zeit wurde noch weitgehend allgemein die Erkenntnis geteilt, dass auch die liberale Demokratie ein gewisses Ma- an sozialer Gleichheit und Sicherheit zu ihrer Bestandsbedingung hat. Dies ist der Leitformel gewichen, dass Ungleichheit Leistung und diese wiederum Wachstum erzeuge, ungeachtet des Umstands, dass die Explosion der Profite und die Akkumulation des Kapitals schon lôngst nicht mehr mit steigendem Massenwohlstand einhergeht. Das Gegenteil ist der Fall.
Beschôftigt mit dem Management dieser "Sachzwônge", bezieht die politische Klasse ihre Legitimation somit immer stôrker aus der Herstellung einer virtuellen Diskurswelt, die angesichts der herrschenden ¡konomischen und politischen Verhôltnisse - fehlende materielle Integrationsm¡glichkeiten, eingeschrônkte politische Spielrôume und fortschreitenden sozialen Fragmentierungen - mit einiger Notwendigkeit mit rassistischen, nationalistischen und wohlfartschauvinistisch-populistischen Momenten best¹ckt ist. Fehlende materielle Integration und Interessenber¹cksichtigung wird mit medial produzierten Feindbildern - AuslônderInnen, Sozialschmarotzer, "organisierte Kriminelle" - und Appellen an die dumpfe Solidaritôt der im globalen Ma-stab real oder vermeintlich "Besserverdienenden" kompensiert. Diese Methode der Legitimitôtsbeschaffung ist keineswegs das Reservat rechtsradikaler oder rechtspopulistischer Parteien. Damit verliert aber die liberale Demokratie ihre universalistischen und emanzipativen Bedeutungsgehalte noch mehr. Sie ist nicht mehr sozialer Prozess und das Feld von Auseinandersetzungen um Freiheit und Gleichheit, sondern wird zum politisch-institutionellen Korsett des gesellschaftlichen status quo. Damit transformieren sich insbesondere die Demokratien der kapitalistischen Metropolen noch stôrker in soziale Apartheidsregime. Sie ersch¡pfen sich in der militanten Abwehr derer, die noch bestehende Privilegien bedrohen k¡nnten. Der Verzicht darauf, an reale Bed¹rfnisse und Interessen zu appellieren und damit demokratische Gegenmacht zu mobilisieren, macht die politische Klasse zugleich um so abhôngiger von denen, die ¹ber die wirkliche Macht verf¹gen.
Abgekoppelt von den realen Interessenlagen einer sozial immer stôrker fragmentierten Gesellschaft, orientiert an selbstgeschaffenen Sachzwôngen und den Privatbed¹rfnissen einer sich verselbstôndigenden "politischen Klasse", gerôt Politik damit zur medialen Inszenierung, gerinnt zum blo-en Diskurs und unterwirft sich damit zugleich immer stôrker den Funktionsmechanismen einer kommerzialisierten Kultur- und Massenkommunikationsindustrie. Die ehemaligen Volksparteien vermitteln nicht mehr, wie noch im Fordismus, eine materiell abgest¹tzte Massenintegration, sondern sind so etwas wie mediale Staatsapparate geworden. Statt politischer Gebrauchswerte verkaufen sie auf dem Stimmenmarkt vornehmlich politische Warenfetische. Die politischen Diskurse verhalten sich zum materiellen Gehalt der Politik wie das Versprechen von Freiheit und Abenteuer zum realen Inhalt der einschlôgigen Zigarettenpackung. Was zôhlt, ist die Prôsentation, entscheidend ist die Verpackung. Taugen sie nichts, gibt es ein "Vermittlungsproblem". Dieser inzwischen in das Standardvokabular der politischen Sprache aufger¹ckte Begriff charakterisiert bemerkenswert klar das Politikverstôndnis der herrschenden Sachzwangdemokratie.
In der Konkurrenz der Parteiapparate geht es zuallererst um werbetechnische Produktdifferenzierung und um die Veranstaltung quotentrôchtiger Schaukômpfe. Deren Prôsentationsweise verbirgt das grundlegende Einverstôndnis der Kontrahenten nur schlecht. Wahlversprechen k¡nnen eigentlich gar nicht gebrochen werden, weil sie nicht wirklich ernsthaft gemeint sind - stehen sie doch immer schon unter dem Vorbehalt des Standortmanagements. Dass Wahlsieger ihre Ank¹ndigungen schnell wieder einkassieren, gilt als selbstverstôndlich. Was ein Politiker isst, trôgt und raucht ist wichtiger als das, was er tut, es sei denn, er macht dabei Prôsentationsfehler. Dann sind die Propagandaabteilungen und Politikstylisten gefordert. Die Manager der Sachzwônge reden permanent von Verantwortung, die sie nach ihrem eigenen Verstôndnis gar nicht haben k¡nnen. Deshalb entschuldigen sie sich eben, wenn etwas schief gegangen ist, um anschlie-end ebenso wie vorher weiterzumachen. Die Verantwortungsgesellschaft m¹ndet somit sozusagen nahtlos in die Entschuldigungsgesellschaft. "Soziale Opfer" werden ebenso bedauert wie sonstige "Kollateralschôden", angezettelte Kriege mit Krokodilstrônen beweint.
Lassen Sie mich dies anhand der politischen Entwicklung in Deutschland verdeutlichen. Nach dem zunôchst noch von einigen Hoffnungen begleiteten "Machtwechsel" im Jahre 1998 ist die rot-gr¹ne bundesrepublikanische Regierung inzwischen dabei, diesen Wandel des Politikbegriffs perfekt zu machen. Sie hat es geschafft, die Medialisierung der Politik im Sinne einer systematischen Entkoppelung von politischem Diskurs und politischer Praxis sozusagen auf die Spitze zu treiben. Ein Beispiel daf¹r ist der Kosovokrieg. Hier wurde mit einem betroffenheitsschwangeren demokratisch-menschenrechtlichen Moraldiskurs ¹beraus erfolgreich verschleiert, weswegen die Bomben wirklich fielen: nômlich wegen der Sicherung der bestehenden Weltordnung und der Kontrolle geostrategischer Einflusszonen im Konflikt der herrschenden Bl¡cke. Deshalb sind die heute Regierenden als Diskursspezialisten im Gegensatz zu ihren Vorgôngerinnen durchaus auch an kritischen Diskussionen interessiert und f¡rdern sie sogar. Das deutsche Au-enministerium zum Beispiel unterhôlt ein Forum "globale Fragen", auf dem PolitikerInnen, Sachverstôndige, WissenschaftlerInnen und nat¹rlich die einschlôgigen "Nichtregierungsorganisationen" eine durchaus offene und kritische Debatte ¹ber die allfôlligen Weltprobleme pflegen - Probleme, die sie zu einem wesentlichen Teil selbst verursachen. Um sie braucht sich der Rest des ministerialen Apparats freilich nicht zu k¹mmern. Die Regierung beschôftigt sogar einen eigenen Menschenrechtsbeauftragten, was sie indessen nicht daran hindert, aus geostrategischen Interessen heraus dem t¹rkischen Folterregime Panzer zu liefern und eine Asyl- und Migrationspolitik mit barbarischen Z¹gen zu betreiben.
Auf diese Weise ist der heute in Deutschland regierenden politischen Formation das gelungen, was ihre liberalkonservative Vorgôngerin nicht schaffen konnte und woran sie letztlich gescheitert ist: die Durchsetzung einer neuen Hegemonie, deren Logik darin besteht, die Politik der neoliberalen Restrukturierung und des Wettbewerbsstaats mit einem moralisierenden, faktische Macht-, Gewalt- und Unterdr¹ckungsverhôltnisse ausblendenden Menschenrechts- und Demokratiediskurs zu verbinden. Damit hat sie es geschafft, ehemals oppositionelle Krôfte und Milieus einzubinden und politisch-intellektuell zu neutralisieren. So etwas nennt man die Schaffung von Hegemonie durch passive Revolution und Intellektuellenkooptation. Der realpolitisch gewendete gr¹ne Koalitionspartner mit seinem intellektuellen Klientel spielt bei dieser diskursstrategischen Wende eine zentrale Rolle. Voraussetzung daf¹r war, "Demokratie" und "Menschenrechte" quasi wohlstandschauvinistisch zum Inbegriff der metropolitanen Produktions- und Lebensweise einschlie-lich ihrer ¡konomischen und machtpolitischen Grundlagen umzudefinieren. Im herrschenden ¡ffentlichen Diskurs bezeichnen diese Begriffe schlicht das, was der imperiale Verbund der sogenannten "OECD-Welt" praktiziert. Und eben dies legitimiert seine Selbstmandatierung zur jenseits jedes kodifizierten V¡lkerrechts stehenden Weltpolizei.
Wir k¡nnen heute also durchaus von einer manifesten politischen und sozialen Krise sprechen. Nun beinhalten Krisen allerdings bisweilen durchaus auch Chancen. Entgegen den Ank¹ndigungen ihrer wissenschaftlichen und politischen Propagandisten hat die kapitalistische Restrukturierungsstrategie der neoliberalen Globalisierung kein neues "goldenes Zeitalter" ôhnlich dem des Fordismus um die Mitte des 20.Jahrhunderts entstehen lassen. Diese Phase war ohnehin ein historischer Ausnahmefall, der nicht zuletzt der mit der russischen Oktoberrevolution entstandenen Systemkonkurrenz und den dadurch entstandenen Legitimationsproblemen geschuldet war. Die keynesianische Vollbeschôftigungs- und Verteilungspolitik ist ohne dieses internationale Krôfteverhôltnis gar nicht zu verstehen. Heute verzeichnen wir eine Welle "arbeitssparender" Rationalisierungen verbunden mit einer Verschiebung der Einkommensrelationen im globalen Ma-stab. Die Folge sind fortschreitende Verarmungsprozesse und eine Vergr¡-erung der sozialen Ungleichheit. Dies wiederum f¹hrt zu einer strukturellen -berproduktionskrise, die sich in deflationôren Tendenzen und in einer immer deutlicheren Verselbstôndigung des spekulativen Finanzkapitals ôu-ert. Damit verstôrkt sich unter dem Diktat des Shareholder-Value-Prinzips der industrielle Rationalisierungsdruck. Die kapitalistische Expansion vollzieht sich in immer bedeutsamerem Ma-e durch Gro-fusionen, deren hauptsôchlicher Zweck Rationalisierung und die Kontrolle von Môrkten ist. Im Gegensatz zum stôndigen Gerede von Wettbewerb und Leistung war der Monopolkapitalismus noch niemals so perfekt ausgeprôgt wie heute. Die strukturelle Entkoppelung von Wachstum und Beschôftigung hat zu einer Situation gef¹hrt, in der explodierende Unternehmensprofite nur noch mit M¹he als Bedingung allgemeinen Wohlstands gerechtfertigt werden k¡nnen. Damit werden aber die materiellen Grundlagen des Legitimationszusammenhangs unterminiert, der den "Sieg" des Kapitalismus im Wettlauf der Systeme mitbegr¹ndet hatte. Die Erosion der "National"-ãkonomien im Zuge der postfordistischen Internationalisierung des Kapitals hat nicht nur den Begriff der "nationalen" Politik, sondern den der "Gesellschaft" ¹berhaupt fragw¹rdig werden lassen. Er bezeichnet jedenfalls ein immer stôrker sozial und politisch hoch fragmentiertes und heterogenes Gebilde. Dies zeigt sich in der wachsenden Ungewissheit bez¹glich dessen, was angesichts der wachsenden sozialen Spaltungen und Fraktionierungen eigentlich unter dem politischen "Volk" im Sinne eines zu kollektiven Entscheidungen fôhigen demokratischen "Demos" verstanden werden sollte. Dass nationalistische, rassistische und wohlfahrtschauvinistische Str¡mungen und Orientierungen sich um so stôrker bemerkbar machen, je mehr die "Nation" ihre ¡konomische und soziale Grundlage verliert, ist nur scheinbar paradox. Dies ist auch nicht nur eine Folge von Orientierungsschwierigkeiten und "Identitôtsproblemen", sondern gewinnt angesichts abnehmender materieller gesellschaftlicher Integrationsm¡glichkeiten auch eine zentrale Bedeutung als Herrschaftsinstrument. Auf jeden Fall ist das vielbeschworene gemeinsame Boot des Nationalstaats lôngst leck geschlagen. Es dient nicht mehr der Reise in bessere Gefilde, sondern erscheint in der st¹rmischen See der globalisierten ãkonomie als ein Rettungsboot, das es gegen alle m¡glichen Arten von Schiffbr¹chigen entschlossen zu verteidigen gilt. Im besten Fall verspricht es wenigstens noch ein paar relative Privilegierungen.
Die globale Freisetzung von Arbeitskrôften sowie zunehmende soziale Ungleichheit und Verarmung f¹hren zu einer wachsenden Informalisierung und Prekarisierung Arbeitsverhôltnisse mit der Folge, dass Drittweltzustônde auch in den kapitalistischen Metropolen zur Normalitôt geworden sind. Nat¹rlich geht dabei "die Arbeit" nicht aus, ist doch deren Ausbeutung durch das Kapital die grundlegende Basis der bestehenden Gesellschaft. Aber sie erfôhrt einen tiefgreifenden Wandel, etwa dergestalt, dass sich das kapitalistische Ausbeutungsverhôltnis zunehmend weniger auf formalisierte Lohnarbeit und immer mehr auf (schein)-selbstôndige Arbeit und vielfache Formen ungesicherter Beschôftigungsverhôltisse in den sich ausweitenden informellen Sektoren st¹tzt. Diese dienen als Môrkte f¹r banalisierte Massenkonsumg¹ter ebenso wie als flexibel nutzbares Reservoir billiger und williger Arbeitskraft, als Arbeitslosenzwischenlager ebenso wie als ¡kologische oder soziale M¹lldeponie.
Zweifellos ist es so, dass unter dem postfordistischen Akkumulationsregime immer mehr Menschen f¹r den kapitalistischen Verwertungsprozess ¹berfl¹ssig werden und nicht einmal mehr in den Genuss eines einigerma-en geregelten Ausbeutungsverhôltnisses kommen. Allerdings beinhaltet dies zugleich einen historisch neuen politisch-sozialen Krisenzusammenhang: Je weniger das Kapitalverhôltnis Arbeit und Lebensunterhalt garantiert, desto mehr macht sich das Kapital sozusagen systemimmanent ¹berfl¹ssig. Deshalb f¹hren die desastr¡sen sozialen Folgen der sogenannten Globalisierung zu einer immer deutlicheren hegemoniale Krise des Neoliberalismus. Was ihn immer noch ideologisch stabilisiert und legitimiert, sind nicht die praktisch lôngst dementierten Versprechen auf eine bessere und friedlichere "Weltgesellschaft". Es ist eher die Schwierigkeit, unter den verônderten Bedingungen des globalisierten Kapitalismus und angesichts des Scheiterns der traditionellen staatssozialistischen und sozialdemokratischen Konzepte konkrete gesellschaftspolitische Alternativen zu entwerfen.
Dies verbindet sich mit der Tatsache, dass sich neoliberale Denk- und Verhaltensweisen nach dem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters in fast allen gesellschaftlichen Milieus festgesetzt haben und dass die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Spaltungen sowie die Mobilisierung des Kampfs aller gegen alle die Formulierung einer politischen Gegenposition erheblich erschweren.
Andererseits kann man vermuten, dass die inzwischen erfolgreich in weiten Schichten und Milieus durchgesetzten "neoliberalen" Bewusstseins- und Verhaltensformen eine eigene Widerspr¹chlichkeit entwickeln. Der strategische R¹ckzug des Staates als materiell gesellschaftsintegrierende Instanz unterminiert auch die Staatsillusion, das heisst die immer schon falsche Vorstellung, mittels des Staates lie-en sich grundlegende gesellschaftliche Verônderungen durchsetzen. Und die Aufl¡sung materieller gesellschaftlicher Zusammenhônge schwôcht auch die nationalen Identifikationen, die eine wesentliche Grundlage b¹rgerlich-kapitalistischer Herrschaft sind und waren. Die Freisetzung der Menschen als "selbstverantwortliche" Marktsubjekte kann auch ihr Streben nach Freiheit und Autonomie verstôrken. Der Zwang zu extremer Mobilitôt und zur fortwôhrender Weiterqualifikation vergr¡-ert nicht nur ihre Verwendbarkeit als Arbeitskrôfte, sondern auch die politisch-sozialen Fôhigkeiten zur Selbstbestimmung. Und schliesslich werden diejenigen, die vom Kapital ¹berhaupt nichts mehr zu erwarten haben, fr¹her oder spôter zur Entwicklung eigener Lebens- und Reproduktionsformen gezwungen werden. Die vom neoliberalen Projekt in Gang gesetzten Prozesse der Individualisierung und Spaltung werden sich somit nicht notwendig in funktionalen Bahnen halten, sondern k¡nnten eine eigene politische und soziale Dynamik entwickeln.
Angesichts dieser Entwicklungen scheint es dringend notwendig, den traditionellen Politikbegriff grundlegend zu revidieren. Davon ist allerdings gegenwôrtig nur sehr wenig zu sp¹ren. Die "reformistischen" Debatten gerade innerhalb des rot-gr¹nen politischen Spektrums kreisen bislang vor allem um Konzepte einer Wiederherstellung funktionierender National¡konomien und Nationalstaaten, manchmal ergônzt um -berlegungen zu einer etwas demokratisierten "global governance". Dem liegt die Vorstellung zugrunde, die fordistischen Strukturen staatlicher Regulation auf nationaler wie internationaler Ebene k¡nnten in irgendeiner Weise wiederhergestellt werden. Dabei bleiben die Ursachen f¹r die Krise des fordistischen Kapitalismus und - damit zusammenhôngend - das Scheitern staatsreformistischer Politiken weitgehend unber¹cksichtigt. Und ebenso unerkannt bleibt, dass die neoliberale Restrukturierung keineswegs einen historischen Betriebsunfall, sondern die R¹ckkehr zur kapitalistischen Normalitôt nach dem Ende der revolutionôren und reformistischen Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt.
Es wird vergessen, dass tiefgreifende Krisen ein Strukturmerkmal des Kapitalismus sind, dass diese gesellschaftliche Formation eine Dynamik aufweist, die eine fortwôhrende Umwôlzung ihrer ¡konomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhôltnisse einschlie-t. Nimmt man dies alles ernst, so stellt sich die Frage, ob kritisches politisches Denken heute die traditionellen - das heisst staatlichen - Kategorien, die Identifizierung von "Politik" und "Staat", von gesellschaftlicher Macht und Staatsmacht nicht grundsôtzlich zu ¹berschreiten hôtte, ob emanzipatorische Politik tatsôchlich auf so etwas wie eine Verbesserung des Staates zielen sollte.
Wohl kaum. Was zur Debatte steht, ist die immer noch herrschende Identifizierung von Politik und Staat, das Denken in den fundamental b¹rgerlichen Kategorien von Staat und Nation, von Privat und ãffentlich, von Politisch und Unpolitisch, von Reprôsentation und Stellvertretung.
Das Scheitern der revolutionôren und reformistischen Staatsprojekte des 20. Jahrhunderts wirft nicht zuletzt die Frage auf, ob Gesellschaften planmôssig-strategisch, von einem Zentrum aus emanzipativ verôndert werden k¡nnen. Oder schôrfer noch: ob dies wegen des im Prinzip autoritôren Charakters solcher Vorhaben ¹berhaupt w¹nschenswert ist.
Inzwischen ist allerdings auch die Voraussetzung f¹r derartige Politikkonzepte, nômlcih die relative Autonomie der Staatsapparate im Verhôltnis zu den gesellschaftlichen Machtstrukturen fragw¹rdig geworden. Im Zuge der aktuellen ¡konomisch-politischen Entwicklung wird die spezifisch b¹rgerlich-kapitalistische Form des Politischen - die "Besonderung" des Staates gegen¹ber der Gesellschaft, die Trennung von "Privat" und "ãffentlich", die relative Autonomie des Staates auch gegen¹ber den ¡konomisch herrschenden Klassen zweifelhaft. Es herrschen deutliche Tendenzen zu einer Art Reprivatisierung des Politischen. Der Nationalstaat transformiert sich zum Bestandteil eines transnationalisierten politischen Apparategeflechts, das im wesentlichen der Exekution ¡konomischer "Sachzwônge" und den Interessen weltumspannender Finanzgruppen verpflichtet ist. Damit wird er aber als institutioneller Ansatz- und Bezugspunkt demokratischer Politik vollends unbrauchbar. Diese Entwicklung ist nicht unbedingt zu bedauern. Immerhin setzt die kapitalistisch-nationalstaatlich verfasste Gesellschaft einer wirklichen demokratischen Selbstbestimmung strukturelle Schranken. Im Gegenteil: die Krise des Staates und der politischen Reprôsentation kann durchaus auch eine Chance beinhalten. Auf der Tagesordnung steht heute ein "radikaler Reformismus", der emanzipative gesellschaftliche Verônderungen nicht mittels der Staatsmacht, sondern durch gesellschaftliche Initiative, durch praktische Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensformen und die Schaffung politischer Organisationszusammenhônge unabhôngig und gegen die herrschenden institutionellen Strukturen anzielt.
Im Unterschied zum Staatsreformismus des 20. Jahrhunderts verstehe ich unter "radikalem Reformismus" Folgendes: es geht um eine radikale Politik, die sich nicht auf den Austausch staatlicher Machtpositionen beschrônkt, sondern darauf abzielt , gesellschaftliche Beziehungen und Verhôltnisse - die Formen der Arbeit und der Arbeitsteilung, die Geschlechterverhôltnisse, die Wertorientierungen und Konsummuster - praktisch zu verôndern. Es geht also um die gesellschaftlichen Wurzeln von Macht und Politik. Und diers ist nur in Form eines Reformismus denkbar, weil solche Verônderungen nicht mittels staatlicher Macht, sondern nur im Wege komplizierter gesellschaftlicher Lernprozesse und praktischer Verhaltensônderungen durchsetzbarsind. D.h. es geht um eine Revolutionierung der Gesellschaft durch sich selbst. Die politischen Revolutionen, auch die b¹rgerliche, waren immer nur der Endpunkt und Abschluss langer gesellschaftlicher Verônderungsprozesse. Wir haben es jeute aber einen wesentlichen Unterschied zur Entwicklung der b¹rgerlichen Gesellschaft zu tun. Diese konnte sich allmôhlich aus dem Schosse der feudalen heraus entwickeln. Der Kapitalismus dagegen hat die Eigenheit, alle alternativen Vergesellschaftungsformen zu verhindern und zu zerst¡ren. Ein allmôhliches, quasi naturw¹chsiges Herauswachsen alternativer Vergesellschaftungsformen aus der b¹rgerlichen Gesellschaft heraus ist deshalb sehr unwahrscheinlich. Grundlegende gesellschaftliche Verônderungen sind nur als bewusstes politisches Projekt denkbar.
Damit sind wir beim Verhôltnis von institutioneller, staatsf¡rmiger und ausserinstitutionell-autonomer Politik. Die Entgegensetzung beider Politikformen, wie sie gerade auch in den aktuellen linken Diskussionen immer wieder aufscheint, ist zweifellos schlecht abstrakt. Nat¹rlich ist staatliche Politik auf einzelstaatlicher und internationaler Ebene ernst zu nehmen, weil sie Bedingungen schafft, Zwônge setzt und entscheidende Gewaltpotentiale zu ihrer Verf¹gung hat. Dies kann jedoch nicht heissen, sich auf staatsf¡rmiges und wesentlich auf die staatlichen Institutionen gerichtetes Handeln zu beschrônken und damit auch deren Spielregeln zu akzeptieren. Dies reproduziert nur die bestehenden Strukturen von Herrschaft und Ausbeutung. Entscheidend ist vielmehr, eigenstôndige und vor allem international verbundene Strukturen und Gegenmachtpositionen, soziale Praxiszusammenhônge, ãffentlichkeiten und politische Organisationsformen zu entwickeln. Erst dies vermag die gesellschaftlichen Krôfteverhôltnisse wirklich zu verôndern. Und gerade dies erzeugt Konflikte innerhalb der herrschenden Apparate, die Spielrôume und Einflussm¡glichkeiten f¹r alternative Politiken er¡ffnen. Institutionelle Politik, in und gegen die Staatsapparate, bedarf einer eigenen politisch-sozialen Basis. Blo-e Kampagnen und punktuelle Mobilisierungen reichen daf¹r nicht aus.
Wenn, global gesehen, ein immer gr¡sserer Teil der Menschen vom Kapital nicht einmal mehr als Ausbeutungsobjekt gebraucht und vom den Staaten sich selbst ¹berlassen, bestenfalls noch als Objekt von -berwachung, Kontrolle und interventionspolizeilicher Aufstandsbekômpfung behandelt wird, erscheint es illusorischer denn je, an den Staat zu apellieren oder ihn in den vorhandenen Strukturen demokratisch renovieren zu wollen. Die Alternative dazu ist allerdings nicht einfach. Gefordert ist nômlich, wie gesagt, eine tiefgehende Verônderung von Produktions- und Lebensweisen, von Konsummustern, der herrschenden Vorstellungen von einem "guten Leben", der Konzepte von Fortschritt und Entwicklung. Statt das Ausgehen der Arbeit zu beklagen, kôme es darauf an, zu realisieren, dass die wachsende Arbeitslosigkeit das Produkt einer kapitalistischen Rationalisierungsstrategie ist, die die Zerst¡rung der menschlichen Naturgrundlagen zu ihrer Grundlage hat, dass die hochrationell produzierte kapitalistische Warenf¹lle immer deutlicher zu Lasten wirklicher Lebensqualitôt geht. Nicht die Arbeit geht aus, sondern sie wird unter dem Diktat des Kapialverwertungsprozesses falsch getan, einem Diktat, das verhindert, dass dringend notwendige Arbeiten geleistet werden k¡nnen, wôhrend gleichzeitig mit immer mehr werbetechnischem und menschlichem Aufwand Schrott produziert wird.
Es kommt darauf an, den konsumistischen Zirkel zu durchbrechen, der diese Verhôltnisse stabilisiert. Kurzum: es geht immer noch um das, was die alt gewordene, mittlerweile zu einer postmodernen Neobourgeoisie herangereifte "Neue Linke" geflissentlich vergessen hat: um eine tiefgreifende Kulturrevolution, nicht nur eine der Bewusstseinsinhalte, sondern vor allem der ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Beziehungen und materiellen Praktiken. Gerade bei der sich als radikal verstehenden Linken besteht heute indessen eine deutliche Tendenz, Politik immer stôrker auf diskursive Kômpfe zu reduzieren und damit die herrschende Trennung von politischem Diskurs und politischer Praxis selbst noch einmal zu reproduzieren. Es reicht, um das bekannte Marx-Zitat abzuwandeln, eben nicht aus, kritisch zu kritisieren, sondern es kommt darauf an, die Welt praktisch zu verôndern.
Neue politisch-soziale Praxiszusammenhônge entwickeln sich allerdings im Zuge der laufenden Prozesse der gesellschaftlichen Desintegration, der Marginalisierung und Informalisierung keineswegs naturw¹chsig. Es bedarf dazu der Schaffung von eigenen Organisationszusammenhôngen und ãffentlichkeiten, die helfen, die ausufernden Individualisierungs- und Fragmentierungstendenzen und den organisierten Kampf aller gegen alle im globalen Ma-stab zu ¹berwinden, historische und praktische Erfahrungen aufzuarbeiten, Interessengegensôtze und divergierende gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen konkret und praktisch zu konfrontieren.
Die Trennung von "politischer" und "sozialer" Bewegung, etwa im Vergleich der ehemaligen nationalen Befreiungsbewegungen in der Peripherie und den "neuen sozialen Bewegungen" in den Metropolen, muss in der Weise aufgehoben werden, dass die Entwicklung autonomer Organisationszusammenhônge und Politikstrukturen sich mit dem Projekt einer Revolutionierung des Alltags verbindet. Zukunftsweisend ist deshalb ein neuer Typ von politisch-sozialer Bewegung, wie er sich ansatzweise bei den mexikanischen Zapatistas oder den brasilianischen Sin Tierra, aber nicht nur dort herausgebildet hat. Solche Ansôtze und Bewegungen m¹ssen sich zunôchst dezentral, auf lokaler und regionaler Ebene entwickeln, im konkreten Erfahrungszusammenhang und unter jeweils spezifischen Bedingungen. Nachhaltig politisch wirksam werden sie nur werden, wenn es gelingt, sie zu verbinden, neue und selbstorganisierte politisch-gesellschaftliche Kooperationszusammenhônge zu schaffen, die es erm¡glichen, Formen solidarischen Handelns im globalen Ma-stab zu entwickeln. Statt den Staat zu verbessern und die kapitalistische Globalisierung gestalten zu wollen, kommt es darauf an, einen anderen, unmittelbaren, praktischen Politikbegriff wirksam werden zu lassen. Kurzum: es bedarf einer Verbindung von politischer und sozialer Befreiung, die von konkreten Erfahrungen und konkreten Lebensverhôltnissen ausgeht und zugleich nationale und partikularistische Schranken ¹berwindet.